Dienstag, 27. Juni 2023

Hermann Hesse: Sprache

 Sprache

Die Sonne spricht zu uns mit Licht,
mit Duft und Farbe spricht die Blume,
mit Wolken, Schnee und Regen spricht
die Luft. Es lebt im Heiligtume
der Welt ein unstillbarer Drang,
der Dinge Stummheit zu durchbrechen,
in Wort, Gebärde, Farbe, Klang
des Seins Geheimnis auszusprechen.
Hier strömt der Künste lichter Quell,
es ringt nach Wort, nach Offenbarung,
nach Geist die Welt und kündet hell
aus Menschenlippen ewige Erfahrung.
Nach Sprache sehnt sich alles Leben,
in Wort und Zahl, in Farbe, Linie, Ton
beschwört sich unser dumpfes Streben
und baut des Sinnes immer höhern Thron.

In einer Blume Rot und Blau,
in eines Dichters Worte wendet
nach innen sich der Schöpfung Bau,
der stets beginnt und niemals endet.
Und wo sich Wort und Ton gesellt,
wo Lied erklingt, Kunst sich entfaltet,
wird jedes Mal der Sinn der Welt,
des ganzen Daseins neu gestaltet,
und jedes Lied und jedes Buch
und jedes Bild ist ein Enthüllen,
ein neuer, tausendster Versuch,
des Lebens Einheit zu erfüllen.

In diese Einheit einzugehn
lockt euch die Dichtung, die Musik,
der Schöpfung Vielfalt zu verstehn
genügt ein einziger Spiegelblick.
Was uns Verworrenes begegnet,
wird klar und einfach im Gedicht:
Die Blume lacht, die Wolke regnet,
die Welt hat Sinn, das Stumme spricht.

Hermann Hesse

„wo Lied erklingt, Kunst sich entfaltet,
wird jedes Mal der Sinn der Welt,
des ganzen Daseins neu gestaltet,“

Ein hohes Bild vom Dichter. Liegt der Sinn menschlichen Lebens in der Sprache oder in Vita activa im Sinne Hannah Arendts?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Conrad Ferdinand Meyer: Die Füße im Feuer

  Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm.  Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Roß,  Springt ab und pocht ans Tor ...